Predigt zum 1. Fastensonntag 2021

Shownotes

Liebe Brüder und Schwestern,

wir beginnen heute die Fastenpredigtreihe, die ich unter das Thema „Geschunden“ gestellt habe. Schlagen wir im Lexikon nach, dann bedeutet „schinden“, ich zitiere: „quälen, grausam behandeln, besonders jemanden durch übermäßige Beanspruchung seiner Leistungsfähigkeit quälen.“ Nun, es war keine lange Überlegung, die mich zu dieser Headline geführt hat. Vielmehr war es eine Reaktion auf die gegenwärtige Atmosphäre, vielleicht auch auf meine persönliche Gefühlslage. Ich stelle fest, dass ich in den letzten Wochen und Monaten relativ häufig zum Kreuz schaue und mein Blick dabei stehen bleibt. Es ist das Bild eines geschundenen Menschen, aufgerieben von überbordenden Erwartungen und eskalierenden Konflikten, grausam behandelt und brutal in die Katastrophe getrieben. Dabei – das wissen wir alle – entlädt sich in seinem Schicksal nicht allein die Aggression gegen seine Person. Er ist Stellvertreter für alles, an dem sich die Menschen seiner Zeit abarbeiten müssen. Projektionsfläche und Sündenbock. Jesus bekommt zusätzlich zu spüren, was es an aufgestauter Frustration und Enttäuschung gibt, über Ungleichheit und Missbrauch von Macht, über Schicksalsschläge und individuelle Not. Ihn trifft die Wut über die politische Obrigkeit und die geistlichen Führer, auch trifft ihn der Hader vieler gegen Gott. In der Addition bündelt sich eine schindende Gewalt, die am Ende kein Leben mehr gestattet.

Sicherlich ist unsere gegenwärtige Not weit von der Realität dieses Bildes entfernt, aber es gibt Ähnlichkeiten und Überschneidungen, so dass das Kreuz eine gewisse Anziehungskraft und Symbolbedeutung entfaltet. Es ist ja zweifelsfrei so, dass das Zeichen des Kreuzes nicht immer gleich bedeutsam für uns ist. In bestimmten Phasen des Lebens fühlt man sich wenig beschwert und in keiner Weise von einem Leid geschunden. Dann kann man verständlicherweise weniger mit diesem dominanten Bild anfangen. Anders ist das mit den Momenten, in denen man sich belastet und unter Spannung erlebt. Da gewinnt das Kreuz an Ausdruckskraft, weil es eine Nähe zur persönlichen Lebenswirklichkeit herstellt.

Wenn ich eben von mir gesprochen habe, dann nicht um sie mit Blick auf meine Person in Angst und Sorge zu versetzen. Es geht mir darum, mit ihnen zuerst ein ehrliches Einvernehmen darüber herzustellen, dass unsere aktuelle Gemütslage vermutlich nicht ganz unzutreffend mit einem Begriff wie „geschunden“ umschrieben sein könnte. Die Coronapandemie, die jetzt bereits ein Jahr andauert und die uns nun schon sechs Wochen im zweiten Lockdown festnagelt, geht an die Nerven und nagt an der Moral. Hinzu kommt für uns alle die erschreckende Situation der Kirche, speziell unserer Kirche von Köln. Wenn man sich mit seinem katholischen Glauben identifiziert und von der Bedeutung überzeugt ist, die die Botschaft Jesu für unsere Zeit besitzt, dann lässt sich schwer ertragen, was jeden Morgen neu an Nachrichten an die Oberfläche gespült wird. Man geht zu Bett und denkt sich, dass es nicht schlimmer kommen könnte, um schon kurz nach dem Aufwachen feststellen zu müssen, dass es doch noch schlimmer geht.

Die Fülle der Informationen über das Ausmaß von sexualisierter Gewalt und ihrer Vertuschung, die fehlende Professionalität und Klarheit der Verantwortlichen, und das ist vornehm ausgedrückt, auch das nicht selten gifte Sperrfeuer der Kommentare, machen fassungslos, lähmen und demoralisieren. Man fühlt sich, ich komme auf die Definition des Wortes „Schinden“ zurück, in seiner Leidensfähigkeit als Christ überstrapaziert. Man fragt sich ernsthaft, wieviel uns die Verantwortlichen noch an Geduld abverlangen und an Last zumuten wollen. Das Maß ist lange voll! Kein Wunder, dass viele diesen Druck nicht verarbeiten und diese Quälerei kaum aushalten können. Selbst aktive Katholiken suchen die Flucht. Wer würde, wenn wir ehrlich sind, diese Tendenz nicht auch von sich selbst kennen? Auch ich finde vieles gerade zum Davonlaufen!

Nehmen wir beides zusammen, die belastende Atmosphäre der Coronakrise und die trostlose Lage unserer Kirche, dann bedeutet das für viele von uns eine doppelte Belastung, die an Herz und Nieren geht. Man kann sich von dieser schrecklichen Melange ohne Übertreibung geschunden fühlen. Möglicherweise kommen noch persönliche Sorgen hinzu, dann wird es noch bedrängender. Und selbst wenn man sonst viel Anlass zu Freude und Dankbarkeit hat, so würde ich meine eigene Lage beschreiben, legt sich das Ganze zunehmend wie Blei auf die Seele. Geschunden!

Es gibt solche Phasen im Leben, so hätte mein geistlicher Begleiter gesagt, da fühlt man sich wie im Schraubstock Gottes. Was er damit gemeint hat, kennt vermutlich jeder aus Erfahrung. Es gehört zum Leben. Selten aber ist, dass sich wie gegenwärtig dieser Eindruck bei vielen gleichzeitig einstellt. Es zeigt einerseits, welche Gewalt von beiden Krisen ausgeht, und bietet uns andererseits die Gelegenheit, dass wir uns dem gemeinsam stellen und im Miteinander nach Wegen suchen, wie wir damit als glaubende Menschen umgehen können.

Auch wenn manche hoffen, die benannten Probleme könnten sich in den kommenden Monaten von selbst erübrigen, hier träumt man von den Wirkungen des Impfstoffs, dort von der Transparenz, die am 18. März die unabhängige Untersuchung über die Verantwortlichen im Missbrauchsskandal bringen soll: Wir alle wissen, dass wir die Folgen dieser beiden Krisen nicht abschütteln können. Sie werden uns noch lange begleiten. Es wird keine einfachen und schnellen Lösungen geben, so viel ist klar. Nicht unwahrscheinlich also, dass die Schinderei noch länger so weitergeht. Wer wüsste schließlich zu prophezeien, was als Nächstes kommt.

Auch unsere Zusammenkunft heute Mittag wird daran zunächst nichts ändern. Es wäre geradezu grotesk, man würde jetzt einen frommen Spruch in den Raum stellen oder tiefsinnige Erklärungen versuchen. Stattdessen scheint es die Herausforderung des Augenblicks zu sein, dass wir uns ehrlich machen, voreinander und vor Gott. Fernab jeder Kosmetik und jedem äußeren Schein könnten wir uns hier vor dem Kreuz einfinden und eingestehen, dass wir uns „geschunden“ fühlen und nicht so recht wissen, wie lange unsere Widerstandskräfte dem noch gewachsen sind. Geteilte Ratlosigkeit, zuweilen auch Verzweiflung.

Wir mögen das nicht so gerne, weil es resignativ wirkt. Sofort regt sich Widerstand: „Man könnte, sollte, müsste doch!“ Aber sich ehrlich machen, verlangt die Wahrheit, und die lautet, dass wir uns vor Grenzen gestellt fühlen und wir nicht wissen, wie wir sie überwinden können.

Was dabei gut tut ist, sich mit diesem Gefühl nicht allein zu wissen. Das macht ein Leid erträglicher. Die Wahrheit stellt Gemeinschaft her und Solidarität. Ein gleiches Schicksal, ein ähnlich empfundenes Unglück. Wir teilen unsere Ratlosigkeit und die Hoffnung, dass uns die Nähe Gottes weiterbringen könnte, sonst wären wir nicht hier. Wir teilen den Blick auf das Kreuz und empfinden, dass dieses Bild des geschundenen Christus’ gerade irgendwie für jeden von uns an Bedeutung gewinnt. Es eint uns. „Ich steh vor dir mit leeren Händen Herr,“ heißt es in einem Kirchenlied und es beschreibt ziemlich zutreffend unsere Situation.

Sicher, das ist noch keine Lösung, aber vielleicht ein wichtiger Schritt auf dem Weg dorthin. „Manchmal müssen wir uns erst schmerzlich unserer Leere bewusst werden, damit Gott sie aus dem Verborgenen neu füllen kann,“ auch ein Wort meines geistlichen Begleiters. Es bezeichnet die Chance, die in den Augenblicken liegt, in denen man sich „geschunden“ fühlt. Sich dann ehrlich zu machen vor Gott, bietet die Chance zum Wandel, zum Auferstehen und zum Neuaufbruch durch IHN. Die Krise wird zur Katharsis.

Amen.

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